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Transformative Justice, Alltagspraxis und Institutionalisierung

Im Interview teilt Marie ihre Perspektiven zu Transformative Justice, Institutionalisierung und den Herausforderungen in der Praxis

In diesem Interview sprechen wir mit Marie, die sich intensiv mit Transformative Justice (TJ) auseinandersetzt. Sie teilt mit uns ihre Perspektiven zur Institutionalisierung und den damit verbundenen Herausforderungen und Chancen für die Praxis. Dabei werfen wir einen Blick auf die Anwendung von TJ, die Rolle von Institutionen und die Bedeutung von Institutionalisierungsprozessen im Zusammenhang mit gesellschaftlichem Wandel.

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Bevor wir starten, was möchtest du über dich und deine Person im Vorfeld mitteilen? Fühl dich frei, so viel und so wenig du möchtest, über deine eigene Positionierung zu teilen.

Groß geworden bin ich in einer bayerischen Kleinstadt in der Großfamilie, geprägt von Werten der katholischen Kirche. Von finanziellen Sorgen war ich in meinem Leben kaum betroffen. Verschiedene Begegnungen und Bildungswege haben mir kritisches Denken über Sexismus, kritisches Weißsein und heteronormative Lebensweisen näher gebracht. Aktuell lebe ich in Wien in einer Wohngemeinschaft, arbeite Teilzeit in der Gemeinwesenarbeit und in der Bildungsarbeit.

Möchtest du gerne kontaktiert werden? Für welche Anfragen bist du offen? Möchtest du einen öffentlichen Auftritt oder eine Veröffentlichung teilen?

Unser Bildungskollektiv radix stellen wir auf unserer Homepage www.kollektiv-radix.at  und unserem Insta-Account unter @kollektiv_radix vor. Für Nachfragen, Kooperationsanfragen oder anderen Anliegen bin ich per E-Mail bin ich unter marie@kollektiv-radix.at erreichbar.

Wie sieht deine Praxis aus? In welcher Form beschäftigst du dich mit TJ oder vermittelst Inhalte?

Ich bin auf sehr unterschiedlichen Ebenen immer wieder mit TJ konfrontiert. Im vergangenen Jahr haben wir mit radix begonnen, Workshopkonzepte zu männlicher Verantwortungsübernahme auszuarbeiten und anzuwenden, um auf primärer Präventionsebene patriarchale Verhaltensmuster aufzudecken und Umgänge damit zu      finden. In meiner Forschungsarbeit habe ich verglichen, wo es Gemeinsamkeiten und Differenzen in Umgängen mit Gewalt vonseiten Frauenhäusern und StoP bzw. aktivistischen Gruppen mit TJ-Ansätzen gibt. Im Juli habe ich einen TJ-Workshop für StoP (Stadtteile ohne Partnergewalt) durchgeführt, in dem wir auch Fragen aufgemacht haben, inwiefern TJ als Ansätze in der Sozialen Arbeit integrierbar sind und ob in der institutionalisierten Gewaltbekämpfung polizei/justizferne Herangehensweisen praktisch umsetzbar sind. Auch in meinen privaten Umfeldern ist TJ immer wieder Thema, von dominanten Redeverhalten in meiner (ehemaligen)      Politgruppe bis zu Gewalt in partnerschaftlichen Beziehungen. Und auch in meinen eigenen Beziehungen habe ich oft TJ-Haltungen im Hinterkopf, wenn es um die Austragung von Konflikten geht.

Was ist dir in deiner Arbeit wichtig?

Mir ist in der Vermittlung von TJ wichtig zu betonen, dass es nicht DEN einen TJ-Ansatz gibt und wir als radix eigene Themenschwerpunkte gesetzt haben, auf die wir in unseren Workshops eingehen. TJ ist als Widerstandspraxis queerer/schwarzer Communities in den First Nations hervorgegangen, da diese Communities von Polizei und Rechtstaat keinen Schutz, sondern eher Repressionen erfahren. Angela Davis benennt diese Strukturen als den Prison Industrial Complex, in dem Kontinuitäten der Sklaverei aufrechterhalten werden, da Gefängnisse von Privatfirmen finanziert werden, in denen größtenteils People of Color unentlohnte Arbeit verrichten. Das Gefängnis- und Rechtssystem in Europa hat eine andere Historie, weshalb die Beweggründe hinter TJ sich unterscheiden. So kann ich in Österreich als weiße, weiblich      gelesene Person durch das Gewaltschutzgesetz eher auf rechtliche Maßnahmen zurückgreifen als Person ohne rechtlichen Aufenthaltstitel oder als Person mit wenig finanziellen Ressourcen. Deshalb ist es mir wichtig, uns bewusst zu machen, mit welchen Positionierungen und Notwendigkeiten wir auf TJ als Alternative zum Rechtsstaat zurückgreifen (müssen).

Welchen Problemen und Hürden begegnest du wiederkehrend?

In der konkreten Prozessarbeit ist es oftmals schwer, die emotionale Last langfristig kollektiv zu tragen, wodurch viele      Prozesse schon nach kurzer Zeit beendet werden. Auch die Arbeit mit gewaltausübenden Personen ist oft nicht so leicht, da dort oftmals Abwehrmechanismen die Aufarbeitung schwer macht oder auch ganz verhindert. Ganz grundlegend für die TJ-Arbeit ist für mich, ein dualistisches Menschenbild von den "Guten" und den "Bösen" aufzubrechen. Das gibt mir die Möglichkeit daran zu glauben, dass Verhaltensweisen von Individuen veränderbar sind, die ein friedlicher(es) Miteinander entstehen lassen und "gesunde " (im Sinne von nicht toxische) zwischenmenschliche Beziehungen fördern. Wenn ich davon ausgehe, dass männlich/patriarchale ansozialisierte Verhaltensweisen (die sich auch FLINTA* aneignen und reproduzieren) nicht mit einem Biologismus verbunden sind, hinter denen Glaubenssätze stecken wie "Männer müssen stark sein", motiviert mich das dazu, von gewaltausübenden Personen problematische Verhaltensmuster aufzuzeigen und daran zu glauben, dass sie diese verändern können.

Das Aufbrechen dieser Zweiteilung von "gut" und "böse" schafft Perspektiven, die dem bestehenden Rechtssystem entgegen stehen. Deshalb bin ich der Meinung, dass Gefängnisse und Strafen negative Selbstbilder eher verfestigen, anstatt delinquentes Verhalten an der Wurzel anzugehen und zu hinterfragen, warum Menschen ein Gesetz gebrochen haben bzw. warum sie Gewalt ausüben.  Diese Binarität aufzubrechen stellt fundamentale Machtverhältnisse in Frage und verändert grundlegend unseren Blick auf Gewalt und Unterdrückung in der Welt. Dass es dafür keine einfachen Antworten und viele weitere Fragen aufwirft, betrachte ich als gesellschaftliche Prozesse, die einen transformativen Charakter haben.

Einerseits wird durch Institutionalisierungsprozesse mehr Klarheit geschaffen, welche Interventionen und Strategien funktionieren könnten. Dogmatisch Prinzipien wie Definitionsmacht und Parteilichkeit zu vertreten, birgt auch die Gefahr auszublenden, dass es auch immer die Möglichkeit gibt, dass diese Prinzipien ausgenutzt werden können. Beispielsweise kann durch Parteilichkeit unbedingte Solidarität aus dem Umfeld gefordert werden, um "gute" bzw. "böse" Seiten zu manifestieren. So ist unsere Realität doch zu komplex, immer klar zuschreiben zu können, wie es zu Gewalt in Beziehungen gekommen war und von wem sie ausgeübt wurde. Deshalb sehe ich ein Beharren auf formulierte Prinzipien auch als Gefahr, Komplexitäten in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht wahrzunehmen.


Ich denke nicht, dass es sinnvoll ist, die Aufarbeitung von Gewalt komplett in die private Sphäre zu verschieben. Ein Erfolg der Frauenhausbewegung war ja eben, Gewalt innerhalb der Familie als Problem zu behandeln, das durch staatlich finanzierte Institutionen unterstützt wird und für Gewaltbetroffene sichere Rückzugsorte bildet. Da ich selbst Sozialarbeiterin bin und die Anerkennung dieses Berufs als professionelles Handeln als jahrzehntelangen Kampf erkenne, glaube ich nicht, dass die Verschiebung von Gewaltprozessen von Beratungsstellen auf private Umfelder die allumfassende Lösung darstellt. Durch langjährige Erfahrungen in der Beratung von Gewaltbetroffenen lassen sich strukturell vorkommende Verhaltensmuster (wie zB Gaslighting) eher identifizieren und auch Strategien finden, wie Gewaltbetroffene mit den Erfahrungen umgehen können. Gleichzeitig schafft die Involvierung von privaten Umfeldern in die Aufarbeitung von Gewalt die Perspektive, dass Gewalt alle etwas angeht und nicht einfach externalisiert werden kann, indem "das Problem" an Beratungsstellen der Sozialen Arbeit ausgelagert werden. Es kann auch freundschaftliche Beziehungen sehr belasten, sich in verschiedenen Fällen verantwortlich zu fühlen, solche Prozesse gemeinsam (auf Dauer) zu tragen. Aus den Erfahrungen in meinen privaten Umfeldern und laut Aussagen TJ-erfahrener Aktivist:innen, hängt diese Art von Care-Arbeit in vielen Fällen auch bei FLINTA*, wodurch oftmals kollektive Verantwortungsübernahme wieder sexistischen Zuschreibungen unterliegt.

Gibt es abschließend noch etwas, dass du gern mitteilen möchtest?

In einem unserer Workshops kam mal der Spruch auf "Don't forget to stop and smell the roses". Das erinnert mich immer wieder daran, auch mal innezuhalten und zu sehen, was wir alles schon geschafft haben und das Schöne im Widerstand zu erkennen.

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Wir bedanken uns herzlich bei Marie für das tolle Interview!

Author:in

jella

Reading time

15 min

Date

February 6, 2025

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